Berufliche Orientierung

in der medizinischen Rehabilitation

Umsetzungshilfen

Ein beruflich orientiertes Rehabilitationsprogramm in einer Klinik einzuführen, ist eine komplexe Aufgabe. Vieles will bedacht sein, nicht alles lässt sich möglicherweise direkt umsetzen. Im Folgenden möchten wir Ihnen einige Hilfen an die Hand geben, um diese Herausforderung zu meistern. Unsere Umsetzungshilfen sollen Sie beim Aufbau oder Ausbau eines beruflich orientierten medizinischen Reha-Ansatzes in Ihrer Einrichtung unterstützen. Bitte beachten Sie: DAS Standardvorgehen oder die Zauberformel gibt es auch in der MBO Rehabilitation nicht.

Im Vorfeld der Rehabilitation

Klären Sie, welche Rehabilitanden überhaupt beruflich orientierte Maßnahmen benötigen

Für berufsorientierte Reha-Maßnahmen müssen diejenigen Rehabilitanden identifiziert werden, bei denen ein besonderer Bedarf an solchen Maßnahmen besteht. Hierbei können Screenings auf besondere berufliche Problemlagen helfen. Diese Kurzfragebögen erfassen, ob eine besondere berufliche Problemlage vorliegt (im Sinne einer ersten groben Vorabeinschätzung). Sie erlauben so eine gezielte Zuweisung zu berufsbezogenen Maßnahmen.

Sofern nicht bereits eine Screening-gestützte Zuweisung durch den Leistungsträger erfolgt, können Sie Screenings in Ihrer Klinik routinemäßig im Vorfeld der Rehabilitation einsetzen. Zum Beispiel können Screenings zusammen mit anderen Unterlagen zur Vorbereitung auf die Rehabilitation an den Rehabilitanden verschickt werden. Dieser füllt den Screening-Bogen aus und schickt ihn entweder vorab an die Klinik zurück oder bringt ihn zur Aufnahme mit. Auf Grundlage des ausgewerteten Screenings kann dann klinikintern eine Steuerung in einen berufsbezogenen Behandlungsansatz erfolgen.

Aktuell liegen drei Screening-Verfahren für besondere berufliche Problemlagen vor, die bei Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit unterschiedlichen Krankheitsbildern genutzt werden können: SIMBO, SIBAR und das Würzburger Screening. Nähere Informationen sowie Möglichkeiten zum Download dieser Verfahren finden Sie hier.

Bereiten Sie die Rehabilitanden auf eine beruflich orientierte medizinische Rehabilitation vor

Es ist wichtig, Rehabilitanden bereits vor Beginn der Rehabilitation über die Ziele und Inhalte einer beruflich orientierten Rehabilitation zu informieren. Hierdurch können falsche Erwartungen („Ich bin hier doch zur Kur!“) vermieden sowie realistische Erwartungen und Zielvorstellungen gestärkt werden. Zusätzlich kann so die Motivation gefördert werden, sich in der Rehabilitation mit der individuellen Berufs- und Arbeitssituation auseinanderzusetzen. Außerdem kann die frühzeitige Information des Rehabilitanden dessen Compliance erhöhen und Maßnahmenabbrüchen entgegenwirken (siehe auch ).

Möglichkeiten sind beispielsweise:

  • Einladungsschreiben vor Beginn der Rehabilitation. Das Einladungsschreiben für den Rehabilitanden vor Beginn der Rehabilitationsbehandlung sollte so gestaltet sein, dass keine falschen Erwartungen an die Behandlung geweckt oder unterstützt werden. Das heißt: In diesem Schreiben muss klar dargestellt sein, dass ein Schwerpunkt der Behandlung auf Arbeit und Beruf liegt, und diese Schwerpunktsetzung sollte außerdem begründet werden (sprich: was ist der Zweck einer beruflich orientierten medizinischen Reha-Maßnahme?).
  • Schriftliche Informationen zum arbeits- und berufsbezogenen Angebot der Klinik. Informationsbroschüren zum arbeits- und berufsbezogenen Angebot der Klinik bieten dem Rehabilitanden die Möglichkeit, sich einen Überblick über die angebotenen Interventionen und die Ziele der Maßnahmen zu verschaffen. Auch eine solche Information dient dazu, „Kurerwartungen“ vorzubeugen.

Für diese schriftlichen Materialien gilt: Die Formulierung sollte möglichst leicht verständlich und patientengerecht sein. Das ist besonders wichtig, um auch Rehabilitanden mit einer geringen Gesundheitskompetenz zu erreichen. Darunter versteht man Patienten, die nur wenig Wissen über ihre Erkrankung haben und denen es an Fertigkeiten im Umgang mit ihrer Erkrankung fehlt.

Hilfen für eine lesefreundliche Gestaltung von Texten finden Sie zum Beispiel im folgenden Buch:

Langer, I., Schulz von Thun, F. & Tausch, R. (2011). Sich verständlich ausdrücken. München: Reinhardt.

Berufsbezug als „roter Faden“ in der Rehabilitation

Der Berufsbezug ist das durchgängige Prinzip jeder effektiven beruflich orientierten medizinischen Rehabilitation. Das heißt: Berufsbezogene Inhalte müssen das gemeinsame Thema aller Berufsgruppen sein, die an der Rehabilitation beteiligt sind. Um das zu erreichen, sind mehrere Schritte wesentlich:

Alle beteiligten Professionen sollten berufsbezogene Aspekte thematisieren

Die Thematisierung beruflicher Inhalte und Probleme der Rehabilitanden darf sich nicht auf einzelne Behandlergruppen bzw. Personen (zum Beispiel den Arzt bei der Aufnahmeuntersuchung) beschränken, sondern muss in allen therapeutischen Disziplinen stattfinden. Alle Behandler sollten Kenntnis über den Arbeitsplatz des Rehabilitanden haben, um ihre Therapien auf die individuellen Anforderungen hin ausrichten zu können.

Umgesetzt werden kann dies in den unterschiedlichen Berufsgruppen auf verschiedene Weise:

Im ärztlichen Aufnahmegespräch. Zu Beginn der Rehabilitation sollten die Ziele der beruflich orientierten medizinischen Rehabilitation im ärztlichen Aufnahmegespräch thematisiert werden.

Im Einführungsvortrag. Im Rahmen eines Vortrags können Ziele und Inhalte der MBOR aufgegriffen und veranschaulicht werden.

Beim Sozialdienst. Die Mitarbeiter des Kliniksozialdienstes besprechen mit Rehabilitanden deren sozialrechtliche Belange (z.B. Wiedereingliederung, innerbetriebliche Umsetzung). Der berufsbezogene Schwerpunkt der Rehabilitation wird hier für den Rehabilitanden also besonders anschaulich und sollte durch den Sozialdienst auch nochmals hervorgehoben werden. Die DRV empfiehlt dazu einen 45-minütigen Vortrag für jeden Rehabilitanden einmal pro Rehabilitation.

In berufsbezogenen Gruppenangeboten. Einige Trainings, zum Beispiel Work Hardening und Ergonomie am Arbeitsplatz (Heben und Tragen), haben explizit die Verbesserung der beruflichen Leistungsfähigkeit zum Ziel. Aber auch in anderen Maßnahmen, die sich auf das körperliche oder funktionelle Leistungsvermögen beziehen (z.B. Medizinische Trainingstherapie), können berufsbezogene Elemente einfließen. Hier können zum Beispiel die körperlichen Anforderungen, die am Arbeitsplatz eines Rehabilitanden eine Rolle spielen, gezielt aufgegriffen und trainiert werden. Auch erlauben Trainings zur Stressbewältigung, zur Kommunikation oder zur sozialen Kompetenz eine inhaltliche Ausgestaltung mit Berufsbezug (z.B. Stressbewältigung und Konfliktmanagement am Arbeitsplatz, Bewerbungstrainings).

Konkrete arbeits- und berufsbezogene Zielformulierungen. Zur Auseinandersetzung mit der Erwerbsperspektive zählt die Definition von Rehabilitationszielen für individuelle arbeits- und berufsbezogene Problemlagen. Hierfür müssen dann konkrete Zielformulierungen erarbeitet werden („Was möchte ich in der Reha bezogen auf mein Erwerbsleben erreichen?“). Eine solche Zielklärung kann zum Beispiel mit Hilfe von bereits vorab versendeten Fragebögen erfolgen. Aber auch im Gespräch mit dem Arzt oder Therapeuten kann eine Zielklärung und -formulierung erreicht werden. Soll der Zielfindung und -umsetzung im Rahmen der Rehabilitation ein besonders zentraler Stellenwert eingeräumt werden, können strukturierte Gruppenprogramme wie z.B. ZAZO (Fiedler et al., 2011; Hanna et al., 2010) zum Einsatz kommen.

Im Rahmen von Gesprächen des Sozialdienstes oder des psychologischen Dienstes mit dem Rehabilitanden oder in Gruppenprogrammen können die arbeits- und berufsbezogenen Ziele thematisiert werden. Konkrete Ziele können z.B. sein:

  • „Ich möchte im Büro zwei Stunden ununterbrochen am Computer sitzen können, ohne Nackenschmerzen zu bekommen.“
  • „Ich möchte insgesamt fitter werden, damit ich bei der Arbeit nicht so schnell erschöpft bin und acht Stunden durchhalten kann.“

Die Reha-Ziele sollten in Teamsitzungen mit allen Professionen besprochen werden.

Wichtig ist auch: das beruflich orientierte Reha-Programm muss in seinen Inhalten verständlich und auf die Alltagsrealität der Rehabilitanden zugeschnitten sein.

Alle Behandler/Professionen müssen hinsichtlich beruflicher Themen qualifiziert sein

Damit der Berufsbezug als Leitprinzip der Rehabilitation verankert werden kann, ist es wesentlich, dass alle beteiligten Therapeuten und Behandler diesbezüglich ausgebildet sind und/oder sich regelmäßig entsprechend fortbilden.

Beispielsweise gibt es für Physio- und Sporttherapeuten, aber auch für Ärzte Fortbildungsangebote zu FCE-Verfahren oder arbeitsbezogenen Trainings. Andere Institutionen bieten Weiterbildungen für Ärzte im Bereich der Arbeits-/Betriebs- und Sozialmedizin oder Train-the-Trainer-Fortbildungen für Reha-Programme mit berufsbezogenem Schwerpunkt (von Relevanz u.a. für Mitarbeiter von Sozialdienst, Psychologen) an.

Wichtig ist auch: Mitarbeiter sollten von Seiten der Reha-Einrichtung bei Fort- und Weiterbildungen unterstützt und (wenn möglich, auch finanziell) gefördert werden. Auch das unterstreicht die Bedeutung, die eine Einrichtung einem in berufsbezogenen Themen gut ausgebildeten Personal beimisst.

In unseren Rubriken „Termine“ und „Links“ finden Sie Hinweise zu Weiterbildungen, Veranstaltungen und Links zu Institutionen, die Aus- und Fortbildung im Bereich der beruflich orientierten medizinischen Rehabilitation anbieten.

Setzen Sie auf Interdisziplinarität und Teamentwicklung

Rehabilitanden in der beruflich orientierten medizinischen Rehabilitation sind eine multifaktoriell belastete Zielgruppe, häufig weisen sie sowohl funktionelle als auch psychosoziale Belastungen auf. Vor diesem Hintergrund ist eine enge Kooperation aller Mitglieder des Behandlerteams besonders wichtig. Beruflich orientierte medizinische Rehabilitation ist dann effektiv, wenn alle beteiligten Behandler und Professionen eng zusammenarbeiten. Das setzt einen interdisziplinären Austausch voraus, welcher möglichst „institutionalisiert“ sein sollte.

Hierzu gehören zum Beispiel regelmäßige Teambesprechungen (zu festen Terminen), an denen alle relevanten Berufsgruppen teilnehmen. Neben Stationsbesprechungen und interdisziplinären Teambesprechungen werden Rehabilitanden-bezogene Fall- und sozialmedizinische Besprechungen empfohlen. Wenn Rehabilitanden in solchen Besprechungen vorgestellt werden, kann dadurch eine noch stärkere Sensibilisierung im Reha-Team für arbeits- und berufsbezogene Aspekte erreicht werden. Auch können alle beteiligten Behandler ersehen, an welcher Stelle im Behandlungsprozess der Rehabilitand gerade steht, wo es mögliche Probleme oder Hemmnisse oder aber auch besondere Fortschritte gibt.

Wichtige Voraussetzung ist ein Konzept für die interdisziplinäre Zusammenarbeit, welche die Transparenz erhöht: jeder Berufsgruppe, die an der Behandlung mitwirkt, sollte klar sein, was die Aufgaben der anderen Behandler im medizinisch beruflichen Therapieprozess sind und woran diese jeweils arbeiten. Weiterhin erforderlich sind dazu gemeinsam definierte Rehaziele. Dadurch wird die Ressourceneinteilung während der Rehabilitation verbessert (Preßmann et al. 2014). Das kann zum Beispiel dadurch erreicht werden, dass sich die einzelnen Berufsgruppen in bestimmten zeitlichen Abständen im Rahmen der Teamsitzungen kurz mit ihren Tätigkeiten und Aufgaben vorstellen.

Gute interprofessionelle Teamarbeit wird einerseits von organisatorischen Maßnahmen wie zeitlichen und personellen Ressourcen begünstigt, andererseits auch von der Unternehmenskultur und einem positiven Betriebsklima. Daher sollten Sie als Führungskraft in der Rehaeinrichtung, Teamarbeit zum Thema in Mitarbeitergesprächen machen sowie Ihre Mitarbeiter in die Entscheidungsprozesse einbinden. Was auch bedeutet, dass es für neue Mitarbeiter ein entsprechendes Einarbeitungskonzept gibt und für erfahrene Kollegen regelmäßige interdisziplinäre Weiterbildungen.

Technische Hilfsmittel wie die elektronische Patientenakte und Dokumentenverwaltungsprogramme können die Zusammenarbeit erleichtern (Müller et al., 2014).

Hilfreich kann (wo passend und machbar) die gemeinsame Durchführung von Therapiebausteinen durch Mitarbeiter aus unterschiedlichen Berufsgruppen (z.B. Arbeitsplatztraining durch Mitarbeiter aus Physiotherapie [Fokus auf Bewegungsabläufe] und Psychologie [Fokus auf Konzentration]) sein.

Gestaltung und Umsetzung

Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, eine berufsbezogene medizinische Rehabilitation auszugestalten. Auf die folgenden Punkte sollten Sie generell achten:

Setzen Sie nicht auf „Schmalspur-MBOR“

Ein größerer Umfang beruflich orientierter Angebote in der Rehabilitation ist für den Rehabilitanden von Vorteil. Das hat das Projekt zur Umsetzung des MBOR-Anforderungsprofils gezeigt – fünf zusätzliche Stunden berufsbezogener Gruppen oder Arbeitsplatztraining waren mit einer um 1,2 Wochen verringerten Arbeitsunfähigkeitsdauer drei Monate nach der Rehabilitation verbunden. Anders gesagt: der zusätzliche personelle, zeitliche und organisatorische Aufwand, der für ein umfassendes berufsorientiertes Reha-Programm betrieben werden muss, zahlt sich für die Rehabilitanden aus.

Daher sollte sich eine beruflich orientierte medizinische Rehabilitation nicht darauf beschränken, einfach das bisherige Programm um ein oder zwei Elemente zum Thema Beruf zu ergänzen. Vielmehr sollte in allen Bausteinen der Rehabilitation der Berufsbezug den gemeinsamen Nenner darstellen. Dafür müssen möglicherweise bisherige Therapiebausteine deutlich oder komplett überarbeitet bzw. umgestellt werden. Da Patienten mit besonderen beruflichen Problemlagen zumeist in ihrer körperlichen Funktionsfähigkeit beeinträchtigt sind und zudem auch oft psychosoziale Schwierigkeiten haben (z.B. Stressbelastung), sollte ein berufsbezogenes Reha-Programm sowohl funktionsbezogene als auch psychosoziale Diagnostik- und Therapieelemente umfassen.

Berücksichtigen Sie funktionelle und psychosoziale Therapieelemente gleichermaßen

Die Rehabilitanden, auf die beruflich orientierte medizinische Rehabilitation abzielt, sind zumeist in vielerlei Hinsicht belastet. Ihre Behandlung sollte sich also nicht allein auf funktionale oder körperliche Einschränkungen beschränken. Auch „weiche“ Faktoren – zum Beispiel arbeitsbezogene Ängste, die subjektive Erwerbsprognose oder Konflikte am Arbeitsplatz – können die Arbeitsfähigkeit und den „return to work“ beeinflussen.

Psychosoziale Themen sollten daher auf jeden Fall in der Rehabilitation im Rahmen eines multimodalen Rehabilitationsprogramms aufgegriffen werden. In der Forschung ist belegt, dass solche umfassenden Ansätze (z.B. Arbeitsplatztraining kombiniert mit psychosozialen Gruppenprogrammen) effektiv sind hinsichtlich Arbeitsfähigkeit und psychologischer Faktoren wie Lebensqualität (z.B. Bethge et al., 2011; Stigmar et al., 2013).

Möglichkeiten der Therapieplanung: „Klassenverband“ oder „Baukasten“

Wie können Rehabilitanden durch das beruflich orientierte Behandlungsprogramm gesteuert werden?

  • Eine Möglichkeit ist der „Klassenverband“: Eine Gruppe von Rehabilitanden (z.B. alle diejenigen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt angereist sind oder bei denen eine vergleichbare Indikation/Erkrankung vorliegt) durchläuft die Rehabilitation quasi „gemeinsam“. Alle Teilnehmer dieser „Gruppe“ erhalten die gleichen Behandlungselemente. In unserer Datenbank finden Sie hierfür Praxisbeispiele, u.a. bei der Klinik Bavaria.
  • Eine andere Möglichkeit ist das „Baukasten- oder Kurssystem“: Hier gibt es keine feste Gruppe von Rehabilitanden, vielmehr durchlaufen diese die Maßnahme „individuell“ mit jeweils unterschiedlichen Therapiebausteinen. Beispiele in der Datenbank sind etwa die Maßnahmen aus dem Reha-Zentrum Bad Eilsen.

Welche dieser Varianten umgesetzt werden kann, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Beispielsweise erfordert das Baukasten-System ein gewisses Patientenaufkommen bzw. eine fest zugesicherte Anzahl an Rehabilitanden mit beruflichen Problemlagen.

Richten Sie die Diagnostik anforderungsorientiert aus

Um eine beruflich orientierte medizinische Rehabilitationsmaßnahme effektiv planen und durchführen zu können, sind bestimmte Informationen wesentlich:

  • Welche Anforderungen hat der Rehabilitand an seinem Arbeitsplatz zu bewältigen?
  • Was kann der Rehabilitand leisten (oder nicht leisten), d.h. wie ist sein aktuelles Leistungsvermögen zu beurteilen?

Eine wichtige Aufgabe der Diagnostik ist es, genau diese Informationen zu beschaffen. Sie soll fundierte Aussagen darüber liefern, welche Diskrepanzen zwischen Anforderungen und Leistungsfähigkeit derzeit bestehen. Diese Aussagen sind wichtig für die Therapieplanung am Reha-Beginn und für die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung zum Ende der beruflich orientierten Reha-Maßnahme.

Zum Abgleich von Anforderungen und Fähigkeiten stehen verschiedene Profilvergleichsverfahren zur Verfügung. Basis für die Profilvergleichsverfahren sind Arbeitsplatzbeschreibungen.

Risiken und Nebenwirkungen beruflich orientierter medizinischer Rehabilitation: Ein „Beipackzettel“ eines langjährigen Praktikers

Wie bei jeder wirksamen Therapie, kann es auch bei der medizinisch-beruflich orientierten Rehabilitation zu Risiken und Nebenwirkungen kommen.

  1. „Ressourcenverbrauch“: Durch die Konzentration der diagnostischen und therapeutischen Bemühungen auf die BBPL-Patienten (ca. 20-70% je nach Indikationsbereich) werden eventuell diejenigen Rehabilitanden (70-80%) vernachlässigt, die noch keine besondere berufliche Problemlage aufweisen, die aber ohne adäquate Rehabilitations- und/oder Präventionsmaßnahmen die zukünftige Klientel einer MBOR-Maßnahme sein werden.
  2. Verfrühte sozialmedizinische Einschätzung: Eine übermäßige Betonung der sozialmedizinischen Beurteilung stellt eine verkürzte Sicht der Medizinisch-beruflich orientierten Reha dar. Die sozialmedizinische Einschätzung im ersten Teamgespräch darf nicht abschließend erfolgen. Vielmehr müssen die vielfältigen Rehabilitations- und Präventionsmöglichkeiten umfassend genutzt werden, um am Ende der Reha eine sozialmedizinische Beurteilung unter Würdigung des Rehabilitationserfolgs erstellen zu können.
  3. „Group think“ (Konzept von Janis, 1972): So wünschenswert und notwendig die interdisziplinären Teambesprechungen sind, so bergen sie doch das Risiko, dass nur noch die „Binnensicht“ der Teilnehmer erörtert wird. Im Extremfall macht sich eine „Stammtisch-Einigkeit“ breit („von denen will doch keiner mehr schaffen“), die kaum mehr hinterfragt wird. Hier empfiehlt sich die Installation eines advocatus diaboli, der immer wieder bewusst eine Gegenposition formuliert.
  4. Self-fulfilling prophecy: Es dürfte schwer sein, eine falsch positive Prognose („der geht auf jeden Fall arbeitsfähig nach Hause“) zu korrigieren, wenn sie coram publico einer Teambesprechung (und dazu auch noch von einem sog. „Silberrücken“ der Klinik) gestellt wurde. Es besteht die Gefahr, dass sie im Sinne einer self-fulfilling prophecy einfach beibehalten wird.
  5. Verantwortungsdiffusion: Da mehrere Mitarbeiter am Entscheidungsprozess beteiligt sind, wird die Last der Verantwortung für z.T. recht weit reichende Entscheidungen auf viele Schultern verteilt und dadurch eventuell gar nicht mehr richtig wahrgenommen.
  6. Soziale Wahrnehmung: Den beteiligten Kollegen aus unterschiedlichen Berufsgruppen fehlt oft die Sensibilität bzw. die Kenntnis für Beurteilungsfehler im Entscheidungsprozess. So können Verhaltensweisen der Rehabilitanden, die aus sozialer Erwünschtheit resultieren („Ich muss bei den Eingangsuntersuchungen zeigen, dass ich berechtigterweise eine Rehabilitationsmaßnahme bekommen habe“) als Aggravation gedeutet werden. Aggressive Verhaltensweisen, die Ausdruck einer Depression sind, können leicht falsch eingeordnet werden („Der Patient xy war beim EFL-Test frech“) und beeinflussen im Sinne eines Halo-Effekts dann die Wahrnehmung des Rehabilitanden durch die anderen Berufsgruppen.
  7. Externe Validität: Es besteht die Gefahr, dass Ergebnisse sog. FCE-Verfahren (z.B. EFL-Test) tendenziell überschätzt und zu wenig hinsichtlich der externen Validität hinterfragt werden. Aber auch die Tätigkeit einer Verkäuferin findet in einem komplexeren Umfeld als in einem Haufen zu stapelnder Dosen und Kisten statt, denn sie muss permanent Entscheidungen treffen wie z.B. „Was mache ich als nächstes?“ „Wie reagiere ich auf den kessen Auszubildenden?“ „Lasse ich mich von der Wohnungsnachbarin in ein Gespräch verwickeln?“.
  8. Datenschutz: Relevante Hintergrundinformationen (z.B. Missbrauchserfahrung in der Kindheit, Mobbing aufgrund der sexuellen Orientierung o.ä.), die nur für die ärztliche Entscheidungsfindung relevant sind, werden „im Eifer des Gefechts“ einer multidisziplinären Teambesprechung einer zu großen Personengruppe bekannt.

Autor:
Martin Kleinhans
Psychologischer Psychotherapeut / QMB
Reha-Zentrum Schömberg, Klinik Schwarzwald
Römerweg 50
75328 Schömberg