Berufliche Orientierung

in der medizinischen Rehabilitation

„Selbstbehauptung am Arbeitsplatz“ - eine Gruppentherapie für Patienten mit arbeitsbezogenen Ängsten

Rehazentrum Seehof der Deutschen Rentenversicherung Bund, Teltow

Klinikimpressionen Seehof, Teltow

Indikation

Psychosomatik

Ziele

Es gibt verschiedene Formen arbeitsplatzbezogener Angsterkrankungen. Unter diesen ist vor allem die Arbeitsplatzphobie ein häufiger Grund für Langzeitarbeitsunfähigkeit und Erwerbsgefährdung. In der verhaltenstherapeutischen Gruppenpsychotherapie „Selbstbehauptung am Arbeitsplatz“ sollen sich die Patienten aktiv und gezielt mit ihren arbeitsbezogenen Ängsten auseinandersetzen, sie verstehen und tolerieren lernen und Angstbewältigungsstrategien einüben. Durch die Therapie sollen die Patienten in die Lage versetzt werden, ihr arbeitsbezogenes Vermeidungsverhalten aufzugeben, wieder an ihren bestehenden Arbeitsplatz zurückzukehren, oder aber aktiv einen neuen Arbeitsplatz zu suchen und antreten zu können.

Inhalte und Ablauf

Die Therapie basiert auf dem Konzept der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Der Patient soll in die Lage versetzt werden, zum einen mit seiner Angstsymptomatik kompetent umzugehen, eine Symptomtoleranz aufzubauen und Vermeidungsverhalten zu reduzieren (ICF: Funktionsebene), sowie zum anderen seine Fähigkeiten zum Umgang mit alltäglichen berufsbezogenen Anforderungen zu verbessern (ICF: Aktivitäten und Partizipation), z. B. Konflikt- und Zeitmanagementfähigkeiten, Verhalten in Bewerbungs- und Präsentationssituationen. Des Weiteren werden mit den Patienten Möglichkeiten und Grenzen von Änderungen ihrer Arbeitsplatzplatzbedingungen (ICF: umweltbezogene Kontextfaktoren) angesprochen.

Es handelt sich um eine halboffene Gruppe die einmal wöchentlich stattfindet und 8-10 Patienten umfasst. Eine Sitzung umfasst 90 Minuten, in jeder Sitzung werden auch Hausaufgaben bis zur nächsten Gruppentherapiesitzung vereinbart. Die Patienten können im sechswöchigen (teil)stationären Rehabilitationsaufenthalt an 6 Gruppensitzungen teilnehmen. Patienten können jederzeit über ihren Bezugstherapeuten in die Gruppe zugewiesen werden. Neue Teilnehmer erhalten ein Informationsblatt über die Gruppe (vgl. Abbildung 1). Zu Beginn und am Ende des Rehabilitationsaufenthaltes füllen die Teilnehmer die Job-Angst-Skala (Linden et al., 2008) aus.

Den Patienten wird diese Gruppentherapie mit dem Titel „Selbstbehauptung am Arbeitsplatz“ angeboten. Dieser Titel macht deutlich, dass die Aufmerksamkeit nicht primär auf situative Umstände und deren Veränderung gelegt werden soll, sondern auf das Selbstmanagement.

Die Gruppe ist nach dem Schema „Thema – Topic – Technik“ konzipiert. Die Therapie ist modular organisiert, d.h. eine Sitzung behandelt in der Regel ein abgeschlossenes inhaltliches „Thema“. Die Themen sind frei wählbar, die Folge der Gruppensitzungen aufeinander unterliegt keinem starren Schema, sondern kann je nach Besetzung der Gruppe die individuellen Themen der Teilnehmer angepasst werden.

Unabhängig vom „Thema“ werden therapeutische Ziele („Topics“) verfolgt: Hierbei liegt der Fokus auf

  • Angstbewältigung und Symptomtoleranz-Training mittels Reaktionsexposition und Veränderung dysfunktionaler Kognitionen auf der Ebene der Symptomatik, d.h. der Psychopathologie (ICF: Funktionsebene)
  • Fähigkeitstraining, wie dem Einüben von sozial geschicktem Verhalten am Arbeitsplatz (Kooperation, Konfliktmanagement, Verhalten in Bewerbungs- und Vortragssituationen) und Selbstmanagement-Fähigkeiten (ICF: Aktivitäten und Partizipation)
  • der Differenzierung zwischen Problemen aufgrund persönlicher Beeinträchtigungen versus struktureller Probleme, Erkennen von Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Handlungsspielraums und dessen effektiver Nutzung (ICF: Kontextebene).

Die Vermittlung der zentralen therapeutischen Inhalte bzw. „Topics“ erfolgt mittels erprobter verhaltenstherapeutischer „Techniken“.

Für die Bearbeitung der Angstsymptomatik wird auf bewährte kognitive und verhaltensbezogene Strategien der Angstbewältigung und Reaktionsexposition, sowie auf Techniken der kognitiven Umstrukturierung zur Reduktion dysfunktionaler katastrophisierender Sorgengedanken zurückgegriffen. Grundlage zur Vermittlung bieten Gruppentherapie-Manuale zu Angst- und Stressbewältigung (z. B. Hillert et al., 2007; Kaluza, 2004; Schmidt-Traub, 2000; Stangier et al., 2003; Ullrich de Muynck & Ullrich, 1998), sowie generelle Verhaltenstherapiestrategien und -techniken (Linden & Hautzinger, 2008).

Im Fähigkeitstraining werden für die Arbeit wichtige Denk- und Verhaltensweisen (Mini-ICF-APP, Linden et al., 2009) trainiert. Arbeitsorganisationsfähigkeiten, Problemlöse- und Konfliktlösungsstrategien, Zielplanung und Umsetzung vor Vorhaben werden anhand konkreter Beispiele und in Rollenspielen geübt.

Hinsichtlich der Kontextbedingungen werden Informationen zu den Möglichkeiten und Grenzen von Veränderungen am Arbeitsplatz gegeben und über Zeitprojektionsmethoden die kurz-, mittel- und langfristigen Konsequenzen gegeneinander abgewogen. Tabelle 1 zeigt eine beispielhafte Beschreibung des Ablaufs eines Arbeitsangst-Gruppendurchgangs.

Tabelle 1: Beispiel über Inhalte und Interventionen einer Arbeitsplatzangsttherapiegruppe
Sitzungs-Nr. Themen Topic Technik
Sitzung 1
v. a. Kontextebene
Arbeitsbedingungen und Arbeitsaufgaben
Angst und Angst am Arbeitsplatz
Warum macht Arbeit Angst?
Kognitives Reframing: Normalität von Arbeitsanforderungen Verhaltensanalysen:
Situations- / Arbeitsplatzbeschreibung und Verhaltensbeschreibung
Hausaufgabe: Auflistung beeinflussbarer und unbeeinflussbarer Kontextfaktoren am eigenen Arbeitsplatz
Sitzung 2+3
v. a Funktionsebene
Welche spezielle arbeitsplatzbezogene Angst ist mein Problem? Wie gehe ich mit Angstsymptomen am Arbeitsplatz um?
Kurz- und langfristige handlungsbezogene und kognitive Angstbewältigungsstrategien
Symptomtoleranz Verhaltensübung zur Symptomtoleranz
Sammlung von Angstbewältigungsstrategien (z. B. Atemübung, selbstberuhigende Sätze)
Hausaufgaben: Einüben von selbstberuhigenden Sätzen
Sitzung 4
v. a Fähigkeitsebene
Durchschauen des Rudelverhaltens am Arbeitsplatz
Arbeitsbezogene Interaktionskompetenzen: Selbstdarstellung in Präsentationssituationen (Bewerbung, Konferenzvortrag, Kundengespräch), sich abgrenzen und sein Recht durchsetzen, um Sympathie werben, verhandeln
Soziale Angemessenheit von Verhaltensweisen am Arbeitsplatz Verhaltensübungen und Rollenspiel an Alltagsbeispielen und Feedback aus der Gruppe
Hausaufgaben: Einübung von Interaktionstechniken und/oder Emotionsregulationstechniken
Sitzung 5
v. a. Fähigkeitsebene
Arbeitsorganisation, Zeitmanagement Unterscheidung persönlicher und struktureller Arbeitsprobleme
Strategieplanung zur verhaltenstherapeutischen Problemlösung: Was kann ich selbst tun? Wie kann ich den mir zur Verfügung stehenden Handlungsspielraum nutzen? Wo sind Grenzen die ich akzeptieren muss?
Problemerkennungs- und Problemlösungsverständnis Problemlösetraining und Realitätstestung
Hausaufgabe: Auf der Verhaltensebene
Vorhaben zum veränderten Umgang mit einem arbeitsplatzbezogenen persönlichen Problem beschreiben
Tabelle 2: Therapiemodule und Leitfaden für den Therapeuten zur Gruppentherapie „Selbstbehauptung am Arbeitsplatz“

„Thema“ (über was geredet wird) Umgang mit Belastungen am Arbeitsplatz
Zeitmanagement und Arbeitsorganisation
Konfliktmanagement und Kooperation mit Kollegen
Arbeitsunfähigkeit und Rente
Sich abgrenzen und Nein sagen
Sein Recht durchsetzen
Umgang mit Ängsten am Arbeitsplatz
Rückkehrgespräch nach der Reha oder langer Arbeitsunfähigkeit
Gespräch mit Chef (z. B. Leistungsbeurteilung oder Zielbesprechung)

„Topic“ (therapeutisches Ziel) Symptomtoleranz
Angstbewältigung
Anforderungstoleranz und Anforderungsmanagement
Reframing dysfunktionaler Kognitionen bzgl. Arbeitssituation oder eigener Reaktionen und Fähigkeiten
Problemidentifizierungs- und Problemlösungsfähigkeiten
Behinderungsmodell für chronische Beeinträchtigungen
Etablierung von am Arbeitsplatz sozial angemessenen Verhaltensweisen

„Technik“ (was macht der Therapeut gezielt mit den Patienten um Topics zu vermitteln) Rollenspiel („Lassen Sie uns das einmal live ausprobieren, ich möchte mir das gerne mal ansehen wie Sie xy machen ...“)
Modelllernen („Das was Sie erzählen, Herr Müller, könnte das auch etwas für Frau Schmidt sein?“)
Geleitetes Entdecken („Was bedeutet xy genau?“ „Wie machen Sie das?“ Fragen stellen!)
Analyse automatischer Gedanken („Was schießt Ihnen dabei durch den Kopf?“)
Reaktionsexposition („Was genau spüren Sie?“ „Wie kriegen Sie es hin, sich einen beschleunigten Herzschlag zu machen?“)
Kurz-Entspannungsverfahren („Stellen Sie sich vor ...“ Ruhebild, Imagination, körperbezogene Anspannungsregulation)

In Abbildung 1 ist das Informationsblatt für die Teilnehmer dargestellt.

Infoblatt für Teilnehmer Abbildung 1: Informationsblatt für teilnehmende Patienten

Der Ablauf der Maßnahme ist in Abbildung 2 zusammenfassend dargestellt (Anklicken zum vergrößern).

Ablauf Selbstbehauptung (Seehof) Abbildung 2: Maßnahme „Selbstbehauptung am Arbeitsplatz“ im Rehazentrum Seehof der Deutschen Rentenversicherung Bund, Teltow

Zielgruppe

Die Gruppe richtet sich an Patientinnen und Patienten aus unterschiedlichsten Berufsrichtungen, die an verschiedenen Formen arbeitsplatzbezogener Ängste leiden (Sorgenängste, spezifische soziale Ängste, gesundheitsbezogene Ängste), die ein Vermeidungsverhalten bezüglich des Arbeitsplatzes oder bestimmter Personen oder Situationen am Arbeitsplatz entwickelt haben, und bei denen eine Rückkehr an den Arbeitsplatz gefährdet erscheint.

Die Maßnahme wird nicht durchgeführt bei Patientinnen und Patienten ab 65 Jahren, bei berenteten Patientinnen und Patienten, bei Erkrankungen die aufgrund der somatischen Erkrankungsschwere eine dauerhafte Arbeitsunfähigkeit bedeuten.

Bei gänzlich fehlender Motivation eines Patienten einen Wiedereinstieg ins Erwerbsleben überhaupt in Betracht zu ziehen, ist die Teilnahme nicht ausgeschlossen, aber im Einzelfall und im Hinblick auf die Gruppenzusammensetzung sorgfältig abzuwägen. Wenn eine Angstproblematik eine solche Vermeidungshaltung bedingt, ist eine Teilnahme an der Gruppe durchaus indiziert.

Beteiligte Berufsgruppen und Ausstattung

Psychologischer oder ärztlicher Psychotherapeut. Es ist keine besondere Ausstattung außer den üblichen Voraussetzungen für therapeutische Gruppen notwendig.

Literatur

  • Hillert, A., Koch, S. & Hedlund, S. (2007). Stressbewältigung am Arbeitsplatz. Ein stationäres Gruppentherapieprogramm. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
  • Kaluza, G. (2004). Stressbewältigung – Trainingsmanual zur psychologischen Gesundheitsförderung. Berlin: Springer.
  • Linden, M., Baron, S. & Muschalla, B. (2009). Mini-ICF-Rating für psychische Störungen (Mini-ICF-APP). Ein Kurzinstrument zur Beurteilung von Fähigkeits- bzw. Kapazitätsstörungen bei psychischen Störungen. Göttingen: Huber.
  • Linden, M. & Hautzinger, M. (Hrsg) (2008). Verhaltenstherapiemanual. Heidelberg: Springer.
  • Linden, M., Muschalla, B. & Olbrich, D. (2008). Die Job-Angst-Skala (JAS). Ein Fragebogen zur Erfassung arbeitsplatzbezogener Ängste. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 52, 126-134.
  • Muschalla, B. & Linden, M. (2009). Arbeitsplatzängste und Arbeitsplatzphobie und ihre Auswirkungen auf die berufliche Partizipation. Versicherungsmedizin, 61, 63-68.
  • Muschalla, B. & Linden, M. (2009). Bedeutung und Behandlung von arbeitsplatzbezogenen psychischen Störungen und Ängsten in der Psychosomatischen Rehabilitation. Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Umweltmedizin, 44, 618-623.
  • Muschalla, B. & Linden, M. (2009). Workplace phobia – A first explorative study on its relation to established anxiety disorders, sick leave, and work-directed treatment. Psychology, Health & Medicine, 14, 591-605.
  • Linden, M., Baron, S. & Muschalla, B. (2010). Capacity according to ICF in relation to work related attitudes and performance in psychosomatic patients. Psychopathology, 43, 262-267.
  • Schmidt-Traub, S. (2000). Panikstörung und Agoraphobie. Ein Therapiemanual. Göttingen: Hogrefe.
  • Stangier, U., Heidenreich T. & Peitz, M. (2003). Soziale Phobien. Ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Behandlungsmanual. Weinheim: Psychologie Verlags Union.
  • Ullrich de Muynck, R. & Ullrich, R. (1998). Das Assertiveness-Trainingsprogramm ATP: Einübung von Selbstvertrauen und Sozialer Kompetenz. München: Pfeiffer.

Ansprechpartner

Dr. Beate Muschalla (Psychologische Psychotherapeutin);
Prof. Dr. Michael Linden
Rehazentrum Seehof der DRV und Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation
Lichterfelder Allee 55
14513 Teltow
bmuschal@uni-potsdam.de