Berufliche Orientierung

in der medizinischen Rehabilitation

Einführung

Was heißt berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation?

Hierunter versteht man die verstärkte Ausrichtung des Rehabilitationsprozesses auf gesundheitsrelevante Faktoren des Arbeitslebens und deren frühzeitige Identifikation. Ziel ist es, durch das Angebot von geeigneten Rehabilitationsleistungen den Verbleib des Patienten in Arbeit und Beruf zu fördern bzw. seine Wiedereingliederung zu erleichtern.

Die berufsbezogene medizinische Rehabilitation soll immer mit Blick auf den aktuellen oder angestrebten Arbeitsplatz des Rehabilitanden erfolgen. Um arbeits- und berufsbezogene Probleme frühzeitig zu erkennen, werden Screening-Verfahren eingesetzt. Mittels anforderungsorientierter Diagnostik wird die Diskrepanz zwischen den aktuellen Fähigkeiten des Rehabilitanden und den Erfordernissen des Arbeitsplatzes aufgezeigt. Die therapeutischen Bausteine wie z.B. berufsbezogene Gruppen oder Arbeitsplatztraining setzen an dieser Diskrepanz an.

Die Ausgestaltung der arbeits- und berufsbezogenen Orientierung ist in den verschiedenen Indikationen und auch innerhalb der Indikationen in einzelnen Kliniken sehr unterschiedlich. Um eine hohe Qualität der Maßnahmen zu gewährleisten, haben Leistungsträger, Praktiker und Wissenschaftler Anforderungskataloge und Umsetzungskonzepte entwickelt. Die Rentenversicherungsträger befassen sich unter dem Stichwort „Medizinisch-berufliche Orientierung“ (MBOR) mit der Thematik, die Unfallversicherungsträger fassen berufsbezogene Maßnahmen unter das Schlagwort „Arbeitsplatzbezogene Muskuloskeletale Rehabilitation“ (ABMR).

Was sind arbeits- und berufsbezogene Problemlagen?

Arbeits- und berufsbezogene Problemlagen sind im Prinzip alle Faktoren, die sich ungünstig auf die Arbeitsfähigkeit eines Rehabilitanden, seinen Verbleib im oder seine Rückkehr ins Erwerbsleben auswirken können.

Vor dem Hintergrund der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) sind berufliche Problemlagen als Kontextfaktoren anzusehen (WHO, 2001): Sie müssen in der medizinischen Rehabilitation berücksichtigt werden, weil sie die Integration in das Erwerbsleben – über Körperstrukturen und Körperfunktionen hinaus – wesentlich mitbestimmen.

Zu den Problemlagen laut ICF zählen:

  • bio-mechanische Belastungen
  • sensomotorische Anforderungen der Arbeitsumgebung
  • psychosoziale Belastungen

Die gesetzliche Rentenversicherung geht vom Begriff der besonderen beruflichen Problemlagen (BBPL) aus und beschreibt sie in ihrem Anforderungsprofil für die Medizinisch-Beruflich orientierte Rehabilitation (MBOR) folgendermaßen:

  • problematische sozialmedizinische Verläufe zum Beispiel mit langen oder häufigen Zeiten der Arbeitsunfähigkeit und/oder Arbeitslosigkeit
  • negative subjektive berufliche Prognose, verbunden mit der Sorge, den Anforderungen des Arbeitsplatzes nicht gerecht werden zu können (auch bei Vorliegen eines Rentenantrags)
  • aus sozialmedizinischer Sicht erforderliche berufliche Veränderung

Um welche Zielgruppe und welche Indikationen geht es?

Zielgruppe der MBOR sind Rehabilitanden mit arbeits- und berufsbezogenen Problemlagen. Unter berufsbezogenen Problemlagen versteht man (gemäß MBOR-Anforderungsprofil der gesetzlichen Rentenversicherung) problematische sozialmedizinische Verläufe (u.a. lange oder häufige Zeiten der Arbeitsunfähigkeit und/oder Arbeitslosigkeit), eine negative subjektive Erwerbsprognose und/oder aus sozialmedizinischer Sicht erforderliche berufliche Veränderungen (DRV Bund, 2015). In der medizinischen Rehabilitation ist davon auszugehen, dass über alle Indikationen im Schnitt bei etwa einem Drittel bis 40% der Rehabilitanden solche Problemlagen vorliegen (Bürger & Deck, 2008; Löffler et al., 2008; Müller-Fahrnow & Radoschewski, 2006; Streibelt & Brünger, 2014). Sie spielen also in allen Indikationen eine Rolle. Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen dabei eine unterschiedliche Häufigkeit beruflicher Problemlagen je nach Indikation (z.B. Orthopädie 65%; Onkologie 60–70%; Kardiologie 50–56%; Psychosomatik74%; Neurologie 72%; Dermatologie 19%; Golla et al., 2014; Streibelt & Brünger, 2014; Westphal, 2014).

Praxisbeispiele aus den unterschiedlichen Indikationen finden Sie in der Datenbank.

Warum sind beruflich orientierte Ansätze in der medizinischen Rehabilitation wichtig?

Anforderungen der Arbeitswelt können Leistungsvermögen, Arbeitsfähigkeit und Gesundheit nachhaltig beeinträchtigen.

Zu diesen Anforderungen im Erwerbsleben gehören:

  • Umstrukturierungen und Umorganisation
  • zeitliche Flexibilität (Überstunden, Arbeitszeitkonten, Leih- und Zeitarbeit)
  • räumliche und soziale Flexibilisierung (längere Arbeitswege, wochenweise Trennung von der Familie, wechselndes kollegiales Umfeld)
  • EDV und IT als Basistechnologie
  • psychosoziale Belastungen (z.B. Erleben von Konkurrenz, Konflikten und Kostendruck, Unvereinbarkeit arbeitsbezogener Anforderungen mit der Familie, Angst vor Arbeitsplatzverlust)

Repräsentative Umfragen unter Erwerbstätigen (z.B. BAuA, 2011/2012) dokumentieren die erlebten Anforderungen und Belastungen. Die beruflich orientierte medizinische Rehabilitation bietet konkrete Ansätze, um die Rehabilitanden bei der Bewältigung dieser Anforderungen zu unterstützen.

Was sind wichtige Inhalte der beruflich orientierten medizinischen Rehabilitation?

Neben der Verbesserung der körperlichen Funktionsfähigkeit (v.a. mit Blick auf die am Arbeitsplatz zu leistenden Anforderungen) soll in allen Therapiebereichen auch eine Wissens- und Kompetenzvermittlung erfolgen (DRV Bund 2015; Büchter et al., 2011; Faller, 2011; Faller et al., 2011; Sudeck & Pfeifer, 2013). Reha-Einrichtungen haben dazu spezielle psycho-edukative Gruppen (Patientenschulungen) mit arbeits- und berufsbezogenen Themen entwickelt. Beispiele für berufsbezogene Gruppen finden Sie in der Praxisdatenbank. Hinweise zur Erstellung und Durchführung von Gruppenschulungen gibt das Zentrum Patientenschulung. Da die Motivation der Rehabilitanden für eine erfolgreiche Rehabilitation eine wichtige Rolle spielt – gerade was die Bereitschaft angeht, sich mit beruflichen Themen und Problemen zu befassen – , sollte diese auch in allen Therapiebausteinen eine Rolle spielen. Hilfreich bei der Motivierung können u.a. Informationen im Vorfeld der Reha sein.

Warum ist der Abgleich der Fähigkeiten der Rehabilitanden mit den Anforderungen ihrer Arbeit in der beruflich orientierten medizinischen Rehabilitation so wichtig?

Der Abgleich zwischen beruflicher Leistungsfähigkeit eines Rehabilitanden und seinen Arbeitsanforderungen im bisherigen Berufsfeld erfolgt, um mögliche Diskrepanzen erkennen und im Rahmen einer beruflich orientierte medizinische Rehabilitation behandeln zu können. Dazu haben Kliniken und Kostenträger bestimmte Vorgehensweisen entwickelt. Die berufliche Leistungsfähigkeit wird mittels Diagnostik zu Beginn erfasst und gezielt in speziellen Therapiebausteinen aufgegriffen. Der Therapieplanung und Diagnostik im interdisziplinären Team Link kommt dabei eine hohe Bedeutung zu. Am Ende der Rehabilitationsmaßnahme wird nochmals eine Diagnostik für die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung vorgenommen.

Voraussetzung zur Bestimmung der beruflichen Anforderungen und zum Abgleich zwischen Anforderungen und Fähigkeiten ist die möglichst genaue Kenntnis der Anforderungen am Arbeitsplatz des Rehabilitanden.

Wie wirkt beruflich orientierte medizinische Rehabilitation?

DIE beruflich orientierte medizinische Reha i.S. eines standardisierten Ansatzes gibt es nicht. Die bisherige Forschung hat eine wichtige allgemeine Erkenntnis erbracht: ein zusätzlicher Nutzen berufsbezogener Angebote in der medizinischen Rehabilitation (i.S. der MBOR) ist nur bei Rehabilitanden mit beruflichen Problemlagen (ca. ein Drittel der Rehabilitanden, variierend je nach Indikationsbereich) belegt. Oder anders gesagt: Ein „Gießkannenprinzip“ – alle Rehabilitanden einer medizinischen Reha-Maßnahme durchlaufen (intensivierte) berufsbezogene Bausteine – ist nicht angezeigt. Vielmehr ist für eine sachgerechte Zuweisung die Identifikation von Rehabilitanden mit beruflichen Problemlagen besonders wichtig.

Für den Bereich der MBOR sind in den letzten Jahren in verschiedenen Studien positive Effekte medizinisch-beruflich orientierter Maßnahmen und Programme u.a. für folgende Bereiche dokumentiert worden:

  • berufliche Reintegration und AU-Zeiten
  • Schmerz und Funktionsfähigkeit
  • psychosoziale Variablen (Selbstwirksamkeitserwartung, psychisches Befinden, Lebensqualität)
  • Wissen/Informiertheit bzgl. berufsbezogener und sozialrechtlicher Aspekte

(Bethge et al., 2011, 2014; Beutel et al., 2005, 2006; Bönisch et al., 2012; Streibelt & Bethge, 2014; Zwerenz et al., 2013).

Im Rahmen der „MBOR-Management-Studie“ wurde die Umsetzung des MBOR-Anforderungsprofils der gesetzlichen Rentenversicherung (DRV) in mehreren Rehabilitationseinrichtungen formativ evaluiert (Bethge et al., 2014). Auch hier zeigte sich: Medizinisch-beruflich orientierte Programme sind umsetzbar und haben positive Effekte hinsichtlich AU-Dauer und Lebensqualität. Mit Blick auf die Implementierung von MBOR-Ansätzen in der Praxis wurde deutlich, dass zusätzliche finanzielle (und personelle) Ressourcen notwendig sind; diese ergeben sich vorrangig aus zusätzlich notwendigen diagnostischen und therapeutischen Leistungen.

Die Wirksamkeit der diagnostischen und therapeutischen Standards der ABMR wurde im Rahmen eines Pilotverfahrens „Arbeitsplatzorientierte Muskuloskelettale Rehabilitation“ (vormals AOMR) belegt. Im Rahmen einer Kohortenstudie in zwei Bundesländern konnten positive Effekte auf den return to work der teilnehmenden Rehabilitanden nachgewiesen werden (Lohsträter & Froese, 2011).

Für den Bereich der medizinisch-beruflichen Rehabilitation MBR (Phase II) konnten im Rahmen der MEMBER-Studie, einer prospektiven multizentrischen Evaluationsstudie, erste Belege für die Effektivität der MBR hinsichtlich der Teilhabe am Arbeitsleben (Arbeitsfähigkeit und Vermittlung auf ersten Arbeitsmarkt) dokumentiert werden (Rollnik et al., 2014).

Wie hat sich die berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation entwickelt?

Das Bemühen um eine stärkere berufliche Orientierung innerhalb der medizinischen Rehabilitation ist nicht neu. Die Reha-Kommission des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) wies bereits 1991 in ihren Empfehlungen für eine Weiterentwicklung der medizinischen Rehabilitation darauf hin, dass “Angebote zur beruflichen Eingliederung innerhalb der medizinischen Rehabilitation ausgebaut und weiter qualifiziert werden sollten” (VDR, 1992, S. 167). Auch die Reha-Kommission Berufsförderung des VDR erachtete eine nahtlose Verknüpfung medizinischer und beruflicher Rehabilitation als besonders effektiv (VDR, 1997). Die bessere Verzahnung sollte u. a. durch Weiterqualifizierung der Reha-Ärzte, Intensivierung der Reha-Beratung in den Kliniken und Durchführung von “berufsbezogenen Vorfeldmaßnahmen” (z.B. Arbeitserprobungen) in der medizinischen Rehabilitation gefördert werden (VDR, 1997, S. 66–67).

Neben Arbeitstherapie und Belastungserprobung als gesetzlich benannten Maßnahmen im Rahmen der medizinischen Rehabilitation (§ 26 Abs. 2 SGB IX) haben in den letzten Jahren viele Rehabilitationskliniken weitere berufsbezogene Bausteine in Diagnostik und Therapie integriert (vgl. z.B. Bürger, 2006; Bürger et al., 1997).

Durch die gemeinsame Projektförderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und der Deutschen Rentenversicherung zur Umsetzung von Ergebnissen der Rehabilitationsforschung in die Versorgungspraxis in den Jahren 2005 bis 2007 konnten Forschungs- und Entwicklungsprojekte durchgeführt werden, die die arbeits- und berufsbezogene Orientierung in den Mittelpunkt stellten. Im Rahmen dieser „Umsetzungsprojekte“ wurden Screening-Verfahren zum Erkennen von Rehabilitanden mit beruflichen Problemlagen entwickelt, berufsbezogene Interventionsmaßnahmen konzipiert und evaluiert und ein Überblick zum aktuellen Stand arbeits- und berufsbezogener Angebote erstellt. Damit konnte die Basis für eine Dissemination arbeits- und berufsbezogener Orientierung in die Praxis geschaffen werden.

Ein wichtiger weiterer Schritt im Rahmen der Etablierung beruflich orientierter Programme in der medizinischen Rehabilitation war die Formulierung eines Anforderungsprofils für Rehabilitationseinrichtungen durch die gesetzliche Rentenversicherung im Jahr 2011. Es wurde zuletzt 2015 überarbeitet und auf den Bereich der psychosomatischen Rehabilitation erweitert (DRV, 2015). Das Anforderungsprofil benennt Zielgruppen, Abläufe und Bausteine des medizinisch-beruflich orientierten Leistungsspektrums und formuliert Mindestanforderungen auf Basis eines Stufenmodells medizinisch-beruflich orientierter Angebote.

Im Rahmen der ABMR benennt die Handlungsanleitung (aktuelle Version aus dem Jahr 2012) die Abläufe, Anforderungen und Verfahren dieses berufsbezogenen Rehabilitationskonzepts der Unfallversicherung.

In der Versorgungspraxis wurden in den letzten Jahren verschiedene beruflich orientierte Maßnahmen und Programme eingeführt und weiterentwickelt. Viele dieser Maßnahmen werden als Praxisbeispiele in der Datenbank ausführlich vorgestellt.

Parallel wurde in der rehabilitationswissenschaftlichen Forschung eine Reihe von Studien durchgeführt, um die empirische Basis beruflich orientierter medizinischer Rehabilitation zu verbreitern und ihre Machbarkeit und Wirksamkeit zu belegen.